Mehr noch als andere Sportarten hat der Radsport den Schmerz schon immer zum Fetisch gemacht. Nicht nur das Leiden der körperlichen Anstrengung, sondern auch die persönlichen Siege über das Wetter, die Elemente oder das Unglück. *
Das Leiden scheint genau so Grundlage des Radsports zu sein wie die Freude. An sich unverständlich, denn warum sollte man sich für etwas begeistern, das Schmerzen bringt, einem Kampf gleicht und immer wieder Überwindung kostet – wieder aufstehen nach einem Sturz, weiter treten auch wenn man vor Kälte die Füsse nicht mehr spürt, gar ein Rennen mit Knochenbrüchen gewinnen.
Leiden und Schmerzen gibt es auf allen Ebenen: beim Giro ebenso wie bei Rundfahrten der Europe Tour oder im Bahnradsport. Es ist ein subjektiver, gleichzeitig nicht enden wollender Diskurs, der auch die Pushbikers in diesem Frühjahr beschäftigt. Nicht zuletzt weil er uns bildlich entgegentritt: in Fotografien, in festgehaltenen Momenten unserer Renntage zum Beispiel im östlichen Europa. Dabei geht es nicht nur beim Radfahren selbst um die Extreme – Schmerz quasi zu heroisieren, ihn als Bestätigung zu empfinden – sondern auch in der Darstellung dieser Momente. Losgelöst von Farbe, reduziert auf das Wesentliche.
Folgt man der Argumentation der französischen Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoir, dann ist der Körper ein Instrument, mit dem wir individuell auf die Welt zugreifen können, sie erleben. Das Gefühl von Schmerz und dessen Überwindung kann zu einem Erfahrungswert werden, nach dem man strebt. Und an dem Punkt kommen wir zum Radsport zurück: „Radfahren ästhetisiert das Leiden und ermöglicht es, sich vorzustellen, dass die eigenen Kämpfe einem größeren Zweck dienen“, wie Ex-Radprofi James Hilton Hibbard formuliert. Er verweist auf die Redewendungen, die Radfahrer oft nutzen, wenn es darum geht, wie sie über die Grenzen ihres Körpers hinausgehen: turning yourself inside out. Das eigene Innere nach Außen bringen. „So seltsam es auch klingen mag, diese Redewendung bringt etwas Grundlegendes über das Leiden auf dem Rad zum Ausdruck: Man strengt sich nicht einfach an, wie wenn man ein Loch gräbt, Holz hackt oder sich mit einer körperliche Arbeit quält. Wenn du auf dem Fahrrad leidest, bringst du die ganze Tiefe all dessen zum Tragen, was du bist und jemals gefühlt hast.“*
„Er überquerte die Ziellinie etwa eine Minute nach dem Hauptfeld. Wenige Augenblicke später holte ich ihn ein, ohne zu wissen, wie sein Tag verlaufen war. War er den ganzen Tag über an der Spitze gefahren, von vorne und hatte gezogen? Ich tappte im Dunkeln, denn ich musste mich selbst bis zur Ziellinie durchkämpfen, mit dem Auto auf abscheulichen bosnischen Straßen, behindert von repressiven Polizisten und selbstmörderischen Fahrern. War er müde? Natürlich war er das, aber wie … ausgelaugt. Ausgesaugt. Leer. Total vernichtet, weißt du. Oder war er enttäuscht? Das Team verpasste einen GC-Podiumsplatz, das wäre also durchaus angemessen. Frustriert, vielleicht? Wütend wegen einer verpassten Gelegenheit?
Manchmal ist die Körpersprache eines Profisportlers schwer zu deuten. In den ersten Minuten nach dem Überqueren der Ziellinie können tausend verschiedene Dinge gleichzeitig vor sich gehen, und da ich seit über einem Jahrzehnt mittendrin bin, habe ich gelernt, eine gewisse Distanz zu wahren. Ich wollte ihm auf die Schulter klopfen und ihm sagen, dass er trotzdem stolz sein kann, aber das wäre vielleicht eine falsche Wortwahl gewesen.
Also habe ich den Mund gehalten und diese Fotos gemacht, fast wie ein Dieb. Meine unzureichende Antwort auf diesen unendlichen Moment.“
Kåre Dehlie Thorstad
In die Pedale treten bis an die Grenze. Einatmen, ausatmen, das Pedal weiter drehen. Meter um Meter. Alltägliche Dinge verschwinden. Die Umgebung schwindet, man hört auf zu denken. Alles wird auf das Wesentliche begrenzt. Ist es das, was Radfahren so schön macht, bis hin zu dem Moment, wenn der Schmerz beginnt – und darüber hinaus? Wenn man an den Punkt gelangt, „sich vorzustellen, dass auch das eigene Ringen im Dienste eines größeren Ziels steht“* ?
Und was bedeutet es für denjenigen, der diesen Moment abzubilden versucht: auch er muss auf das Wesentliche eingehen. Konzentration richten auf die Gefühle, den Gesichtsausdruck, die Intuition. Alle Informationen verringern um das Bild möglichst verständlich für den Betrachter zu machen. Das Bild so „leer“ machen wie der Zustand des Radfahrers selbst. Das zeigen, was übrig bleibt, wenn auch die Farbe entnommen ist.
Manches kann nicht in einem Status des Dazwischen existieren. So liesse sich schlussfolgern, dass Schmerz nicht grau sein kann, sondern nur schwarz oder weiss. Nur im Extrem lassen sich bestimmte Phänomene verstehen. Und nur so lassen sie sich darstellen.
— * James Hamilton Hibbard
The Art of Cycling, online lesbar via Soigneur
— Simone de Beauvoir
The Second Sex