Februar 15, 2023

Wie eine „Universität des Radsports“

Task

My team, my crew, my family – herzlich willkommen bei den Pushbikers, Liam! Wir haben ihn beim Training im Velodrom von Montichiari im Kreise der Nationalequipe begleitet, und nutzen die Gelegenheit auch, um ein bisschen über das Bahnfahren, unsere eigene Geschichte und alte Zeiten zu philosophieren. Das Gespräch zwischen Liam Bertazzo, Christian Grasmann und Nationalcoach Marco Villa hier.

Liam Bertazzo, Christian Grasmann
und Marco Villa im Gespräch

Ein Gedankenaustausch
zum Bahnradsport.

Als UCI Continental Straßenteam hatten sich die Pushbikers 2021 bemüht, schon früh die Erfahrungen der laufenden Saison zu reflektieren und über neue Gesichter auch erweiterte Möglichkeiten und Ziele für das Team zu definieren. Alle Fahrer wurden im November bereits vorgestellt. Und nun haben wir uns doch für einen besonderen Schritt entschieden. Eine „Nachnennung“ sozusagen, aber eine, die in der Geschichte dieses Teams begründet liegt, in der tiefen Leidenschaft für das Bahnradfahren, und auch eine lokale Verbindung zur Weltelite des Bahnradsports in diesem Sommer schafft.

Liam, herzlich Willkommen bei den Pushbikers! Könntest du dich selbst in Kürze einmal vorstellen?

Hallo, ich bin Liam Bertazzo, geboren 1992 in Este, in der italienischen Provinz Padua. Ich fahre Radrennen seit ich zwölf Jahre alt bin, und seit 2015 bin ich ein Profi. Ich liebe sowohl die Straße als auch die Rennbahn, die mir in meiner Karriere besonders viel Freude bereitet hat.

Wenn man deine Entwicklung etwas genauer betrachtet, dann gibt es da nicht ausschließlich Radsport seit Kindesalter.

Ja genau, bevor ich Fahrrad gefahren bin, habe ich Kunstturnen gemacht –  eine gute Übung für das Leben und das Lernen. Dann habe ich mich entschieden, zum Radsport zu wechseln und zum Glück habe ich 2015 den Schritt in ein Profiteam geschafft. Nun beginnt ein neues Abenteuer und ich habe den Wunsch und die Entschlossenheit, vielleicht mehr denn je, allen zu zeigen, was für ein Radfahrer ich bin.

Für die Bahn leben

Die Pushbikers haben ihre Teamfahrer für 2022 bereits Ende verganegnen Jahres vorgestellt. Liam ist nun der letzte Neuzugang, wie kam es dazu?

(ChG) Im ersten Zug war es Pippo Fortin, der einen ersten Kontakt in die Wege geleitet hat. In der Verbindung mit Marco Villa und Fabio Masotti waren bei mir und bei Rupert Hödlmoser sofort ein gutes Bauchgefühl da. Ich kannte Liam, und meine enge Bindung zur Bahn muß ich sicher keinem erklären. Natürlich möchten wir Liam ein professionelles Umfeld bieten und da gilt auch allen Partnern und Ausstattern mein Dank. Ich hatte vor allem mit Klaus Haas (Maloja) jemanden, der sehr hinter mir steht – und das hat dann eine solche Möglichkeiten erschaffen. Nun bin ich gespannt, wie sich Liam entwickelt und wie wir zusammenwachsen.

(LB) Angesichts des Corona-Virus war es ein etwas seltsames Jahr, aber besser spät als nie! Filippo hat mir bereits 2021 von den Pushbikers erzählt und mich neugierig gemacht. Es wird ein wichtiges Jahr sein, um Erfolge auf der Bahn, aber auch auf der Straße zu erzielen, mit persönlichen Zielen, aber vor allem als Lead-out und Unterstützung für Filippo.

Christian, Du sprichst hier auch eine persönliche Referenz an – 2007 bist du als damals 25-jähriger in Berlin mit Marco Villa das Sechstagerennen gefahren. Das war für dich noch zu Beginn deiner Bahnkarriere, während Marco bereits als Routinier unterwegs war.

(ChG) Wenn ich mich recht erinnere, bin 2003 mein erstes Sechstagerennen gefahren. Damals ging es von Oktober bis März von einem Rennen zum nächsten, und fast jedes Mal mit einem anderen Partner. Im Januar 2007 kamen wir gerade aus Stuttgart, davor bin ich in Bremen gefahren und davor in Holland immer mit 6 Renntagen und einem Reisetag dazwischen. Dementsprechend war ich zum einen leicht angeschlagen aber natürlich auch leicht nervös. Damals konnte ich keine Rennen lesen, und schon gar nicht mitbestimmen. Marco hatten einen sehr großen Anteil an meinem Verständnis, auch mal Geduld zu haben und nicht mit der Brechstange zu fahren. Ich würde fast sagen, dass mich Marco gelehrt hat, aus dem Mittelfeld ins vordere Drittel zu kommen, und dadurch maßgeblich an jedem Sieg und Podium beteiligt war.

(MV) Es war eine gute Erfahrung, denn dadurch, dass ich mich in den Dienst der jungen Menschen gestellt habe, wurde mir klar, wie meine Zukunft aussehen könnte, wenn ich als Coach tätig wäre.

Bei vielen der Freunde und Fans der Pushbikers dürfte das Herz höherschlagen, wenn wir vom Bahnradsport sprechen. Mit dem Bahnradsport sind die Pushbikers groß geworden, auf der Bahn liegen die Wurzeln und auch heute steckt natürlich noch ganz viele Liebe für diese Radsport-Disziplin in Dir, Christian und daher auch im Team. Wie siehst du das – einen Fahrer wie Liam zu gewinnen, ist das auch eine Verbindung zur eigenen Geschichte?

(ChG) Nicht nur viele Freunden und Fans werden sich ungemein über diese Verpflichtung freuen – vor allem habe ich mich selbst gefreut. Ich habe auf der Bahn und im Kontext des Bahnradsports so viele tolle Dinge erleben dürfen – sportlich, aber auch zwischenmenschlich und ganz allgemein gesprochen: in der Art und Weise, wie wir vor Jahren mit und durch diesen Sport gelebt haben. Viele, viele Momente und Begegnungen begleiten mich da. Insofern bringt mich Liam wieder näher an diese Welt. Und als Team Manager macht es mich stolz, einen Weltmeister im Pushbikers Trikot zu haben – ein Titel, der für mich selbst nie zur Debatte stand. Man bemerkt Liams Leidenschaft für die Sache, seinen Charakter, aber auch seine Professionalität, und das begeistert mich auch für unsere jetzige Mannschaft.

Wenn ich an meine Bahn-Karriere denke, dann stimmt mich das glücklich und dankbar, auch weil ich tolle Teamkollegen für die Pushbikers-Truppe um mich sammeln konnte. Aber heute stelle ich auch fest, dass wir in Deutschland keine Athleten mehr haben vom Schlag wie Leif Lampater, Marcel Kalz oder Robert Bengsch. Alles Profis, die vom Radsport leben konnten. Heute müssen gute Bahnfahrer im deutchen Nationalteam fahren – und für alle anderen Bahnfahrer gibt es kaum noch Wettkämpfe und Möglichkeiten, sich zu duellieren und einen Lebensunterhalt zu verdienen. Natürlich sind es neben den strukturellen Entscheidungen, wie sich der Bahnradsport in Deutschland entwickelt hat, auch die Folgen der letzten beiden Jahre: keine Indoor Events, weitgehende Auflagen, die am Limit stehende Organisatoren dann oft zum Aufgeben gezwungen haben. Wir bemühen uns nichts desto trotz, mit unserem Verein solche tollen Fahrer-Typen wieder aufleben zu lassen durch Förderung, und wir haben einige junge Athleten und Athletinnen, die das Zeug dazu hätten.

Das Gleiten im Holzoval, Adrenalin, Nervenkitzel und Beherrschung

Was macht Bahnradfahren aus?

(LB) Für mich ist der Bahnradsport eine einzigartige und besondere Welt: Die Rennen fühlen sich anders an, weil ich sie auf dem Oval und in einer Halle erlebe. Mehr Spannung, Adrenalin und Nervenkitzel. Ich liebe die Bahn und die Beziehung, die sie zu den Menschen aufbaut.

(MV) Das ist die „Universität des Radsports“. Denn wenn man sich intensiv anstrengen muss, versucht man immer, die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit auszuloten.

(ChG) Es ist diese pure Art und Weise, sich zu extrem leicht und schnell zu bewegen. Es sind diese Instinkte, die Bahnfahrer entwickeln, weil sie auf die Bremse – also eine entscheidende Sache an jedem Fahrrad – verzichten und trotz des Risikos jede Runde aggressive sein müssen. Das leise Gleiten über eine Holzbahn, vor vollen Rängen – das ist ein brutales Gefühl. Und der Druck, zu funktionieren, war für mich der größte Antrieb, hart zu trainieren.

Was hat sich im Bahnradsport in den letzten Jahren getan, Marco, gibt es da neue Entwicklungen, die du als ehemaliger Profi und jetzt als Nationaltrainer wohlwollend oder kritisch siehst?

(MV) Die Ergebnisse der letzten Jahre zeigen, dass die Bahn mit der Straße vereinbar ist, um junge Talente und Spitzenkräfte zu fördern.

Was zeichnet einen Fahrer wie Liam aus und was ist seine Rolle in der italienischen Nationalmannschaft?

(MV) Liam ist ein Grundpfosten in unserem Team. Er ist in den vergangenen Jahren sehr gereift und hat seine persönlichen Ziele erreichen können. Und nicht zuletzt ist er auch ein Vorbild für jüngere Radfahrer.

Anschluss an die Weltspitze und das Team als Familie

Was sind für 2022 deine persönlichen Highlights und Ziele, Liam?

Im Straßenradsport lernt man seine Grenzen kennen, aber manchmal hilft es einem auch, sie zu überwinden. Die Teilnahme am Giro d’Italia zum Beispiel hat mich gelehrt, mit meinen Stärken umzugehen und mich selbst besser zu verstehen. Ich möchte dieses Jahr auf der Straße gute Ergebnisse erzielen und versuchen, dem Team so gut wie möglich zu helfen. Auf der Bahn strebe ich die Europameisterschaften quasi „im eigenen Land“, in München, an, und natürlich die Weltmeisterschaften, die im Velodrom Saint Quentin-en-Yvelines stattfinden – denn sie sind wichtig für die Olympiaqualifikation für Paris 2024.

Und wie können dich die Pushbikers dabei unterstützen?

In der Nationalmannschaft ist es so: Bevor wir Rennfahrer und Teamkollegen sind, sind wir in erster Linie Freunde. Freunde, auf die man sich verlassen kann, denen man vertrauen kann, aber vor allem helfen wir uns gegenseitig. Und ich hoffe, dass ich in diesem Team eine ähnliche Dynamik aufbauen kann. Unterschiedliche Köpfe, aber ein Ziel. Die Pushbikers sind eine gut organisierte Mannschaft, mit einem nicht zu unterschätzenden Einsatzwillen und Kampfgeist. Eine kleine Familie, aber mit großen Ambitionen. Der Ansatz gefällt mir – ebenso bin ich natürlich froh, dass hier der Bahnradsport gut verstanden wird und man mir entsprechend die Freiheiten für die Einsätze gibt.

Die European Championships werden im August dieses Jahres in der bayerischen Landeshauptstadt München ausgetragen; 22 der insgesamt 30 Radsport-Medaillenentscheidungen werden dabei auf der Bahn ausgetragen. Wie fiebern die Pushbikers dem Event entgegen?

(ChG) Liam ist natürlich unser Link zu den Europameisterschaften. Wir haben aber auch viele andere Verbindungen, wie z.B. Walter von Lütcken, der mit dem Bau der Bahn auf der Münchner Messe beauftragt wurde. Einige unserer Athleten und Trainer aus den Radsportvereinen werden als freiwillige Helfer arbeiten, wir wollen einen Stand vor der Halle aufbauen … es gibt so viele Möglichkeiten, sich zu beteiligen, und ich freue mich schon sehr auf ein wirklich intensiven Bahnradsport und die Möglichkeit, viele Weggefährten zu treffen! Wir werden auch Partner und Freunde einladen, eine gute Zeit mit uns live an der Strecke und in Holzkirchen in unserem neuen Büro, Shop und Headquarter zu verbringen. Hoffentlich am Ende mit einer Medaille und einer bayerisch-italienischen Party.

(ChG) Liam ist natürlich unser Link zu den Europameisterschaften. Wir haben aber auch viele andere Verbindungen, wie z.B. Walter von Lütcken, der mit dem Bau der Bahn auf der Münchner Messe beauftragt wurde. Einige unserer Athleten und Trainer aus den Radsportvereinen werden als freiwillige Helfer arbeiten, wir wollen einen Stand vor der Halle aufbauen … es gibt so viele Möglichkeiten, sich zu beteiligen, und ich freue mich schon sehr auf ein wirklich intensiven Bahnradsport und die Möglichkeit, viele Weggefährten zu treffen! Wir werden auch Partner und Freunde einladen, eine gute Zeit mit uns live an der Strecke und in Holzkirchen in unserem neuen Büro, Shop und Headquarter zu verbringen. Hoffentlich am Ende mit einer Medaille und einer bayerisch-italienischen Party.

Und zuletzt noch: Liam, wie sieht es bei dir aus mit Sechstagerennen und welches Velodrom gefällt dir am besten?

Das schönste Velodrom ist für mich das in London, wo die Olympischen Spiele 2012 stattfanden. Wenn es voll ist, fühlt es sich an wie ein Stadion. Es ist einfach toll. An einigen Sechstagerennen in Italien habe ich bereits teilgenommen, aber natürlich würde ich gerne Sechstagerennen in ganz Europa erleben. Ein Traum wäre es auch, sechs Tage mit Christian teilen zu können, von ihm zu lernen und mich zu verbessern.

Credits

Photo

Elena Sinigaglia, Hennes Roth
Photographer

Video

— Martin Erd / Michael Kögl
Video

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