Eine Woche vor dem Start der Bahnrad-Weltmeisterschaften hat der deutsche Verband das Aufgebot für die Ausdauer- und Kurzzeit-Disziplinen bekannt gegeben. Einer der 21 Athleten ist Pushbiker Moritz Augenstein, der für gleich drei Disziplinen gemeldet ist: Omnium, Scratch und Zweier-Mannschaftsfahren – zusammen mit Roger Kluge, dem amtierenden Weltmeister.
„Moritz ist für mich fast ein Pushbiker der ersten Stunde“, lacht Christian Grasmann, „als er 18 war, schrieb er mir eine Email und kam zum Training mit uns auf die Bahn nach Augsburg. Mir war schnell klar: der Junge kann was. Als Pushbikers haben wir ihn begleitet, mehrere Jahre im Team und dazwischen immer auch als Freund. Dass er 2025 wieder Teil unserer Rennmannschaft ist und nun endlich eine WM fährt, ist für mich eine Riesen-Freude!“
Denn da ist etwas, das Moritz kann: Er bringt Leben in die Räume, die er betritt – mit seinem breiten Lächeln und seiner offenen Art. Er sieht sich selbst als Realist, als jemand, der sein eigenes Können gut einschätzen kann. Und er liebt Radsport intrinsisch, von innen heraus – unabhängig davon, auf welcher Ebene er ihn betreibt.
Er zeigte sein Talent schon als Junior in BDR Sichtungsrennen und mit guten Platzierungen und Siegen bei den deutschen Meisterschaften, entschied sich für eine Vollzeit Ausbildung zum Verfahrenstechniker. Was ihn sicherlich prägte, denn er schaffte es, sportliche und berufliche Leistung zu kombinieren. Über Jahre hinweg. Während Corona begann er neben Vollzeitjob und Radsport ein Bachelor Studium – abends und am Wochenende. „Als dann 2022 die Rennen wieder richtig angefangen haben, war ich natürlich direkt wieder voll dabei. Da ich es nicht anders kenne und immer neben dem Job trainiert habe, habe ich das gut meistern können“.
Im Sommer 2023 setzt er sein Ausrufezeichen: Moritz holt insgesamt vier Titel im Ausdauerbereich bei den Deutschen Bahnmeisterschaften- im Punktefahren, Madison, Scratch und im Ausscheidungsfahren. Dazu DM Gold hinter dem Derny. So düpierte er gar die Nationalfahrer, wie einige sagten. Und tauchte für die oberste Liga wieder auf.
Moritz erhielt Gast-Einsätze mit der deutschen Nationalmannschaft und mußte gleichsam einiges ertragen, körperlich wie mental. Im Sport liegen Höhen und Tiefen oft näher beieinander, als wir denken. Bei den Deutschen Kriteriumsmeisterschaften im Sommer 2024 stürzte er wegen einer Passantin, die auf die Strecke lief. Beim Ausweichen prallte Moritz in die Absperrgitter, brach sich das Schlüsselbein links und das Schulterblatt rechts, das rechte Schultergelenk wurde gesprengt. Erst sechs Wochen später sass er das erste Mal wieder auf dem Rad. Tatsächlich hat er bis heute Probleme in der Bewegung und Ansteuerung der Schulter.
„Funktionen, die ich nicht mehr habe, brauche ich für den Radsport aber auch nicht“, sagt er. Viel schmerzlicher traf ihn, dass seine Ambitionen auf eine Teilnahme an der damaligen WM 2024 zunichte gemacht waren.
Seine Disziplin bleibt. Er fährt weiter und erhält 2025 den Nationalkaderstatus. Beim Trainingslager des Nationalteams auf Mallorca der nächste gravierende Einschnitt: „Wir wurden aus dem nichts von hinten von einem Auto umgefahren. Was passiert war, habe ich erst im Straßengraben realisiert. Ich kann mich nur erinnern, dass es von hinten einen Stoß gab und wir dann geflogen sind.“ Sechs Radprofis lagen teils mit schweren Knochenbrüchen am Straßenrand, nachdem ein 89-jähriger Spanier in die Trainingsgruppe gefahren war. Moritz brach sich erneut das linke Schlüsselbein, dazu beide Schulterblätter. Es folgten zwei Tage in Krankenhaus in Palma, danach der Transport in das Krankenhaus Tübingen. Scherzend bemerkt er: „Die Nachbehandlung war eigentlich gar nicht so wild da ich eh noch wegen meinem ersten Unfall in Behandlung war.“
Diesmal ist es sein Start bei der Europameisterschaft Bahn im Februar, der zunichte geht. Ja, man fühlt Enttäuschung, sagt Moritz. Vor allem, wenn man so lange auf etwas wartet, hinarbeitet – „und es dann verpasst durch etwas Unnötiges“.
Am Freitag ist Moritz in Santiago di Chile gelandet. Abenteuer, Kaffee, Watts und Posen für Social Media. Für ihn steckt weit mehr dahinter. „Dadurch dass es mein erstes großes internationales Rennen ist, gehe ich relativ entspannt und gelassen an die Sache ran. Ich weiss aber nicht, wie es kurz vor dem Rennen sein wird.“ Auf seinem Rennplan steht zuerst das Scratchrennen, gefolgt von einem Tag Pause, danach das Omnium und schließlich am Sonntag die „Königsdisziplin“, das Madison. Mit Roger Kluge hat er zuvor schon trainiert, auch in Grenchen ein erstes Rennen im Oktober absolviert nach dem letzten gemeinsamen Trainingslager. „Ich glaube wir ergänzen uns ganz gut. Ich bin eher der Fahrertyp, der gerne sprintet und nicht so lange Vollgas fährt. Und Roger ist das Gegenteil“, so Moritz.
Mit Roger Kluge fuhr Teamchef Christian Grasmann 2017 seinen zweiten Sechstage-Sieg in Rotterdam ein. Und auch Moritz wird im kommenden Januar mit Roger Kluge bei eben diesem Sechstagerennen starten.
„Ich habe viele tolle Erinnerungen mit den Pushbikers“, erklärt er. „Mein absolutes Highlight war unsere Tasmanien Reise im Dezember 2018. Der Sieg beim dortigen Latrobe Wheel Race war etwas ganz besonderes.“ Die tasmanische Tageszeitung umschrieb, was für uns als Europäer unverständlich ist: Ein Deutscher namens Moritz Augenstein gewinnt das Handicap-Rennen – ein Rennformat auf der Bahn, das in Australien und Tasmanien ungemein populär ist. Als 21-jähriger wurde Moritz damit eine Legende, und erreichte das, was vor ihm nur die Schweizer Franco Marvulli (2013) und Urs Freuler (1982) geschafft hatten. Und er verbesserte sogar den bis dato existierenden Rekord von 3:11.27 um über 5 Sekunden.
„Christian hat bei mir eine große Rolle gespielt – insbesondere in Bezug auf Taktik. Er war es auch, der in Tasmanien sagte: Leg einen dicken Gang drauf und dann Vollgas. “
Lieber Moritz, wir drücken dir die Daumen für eine erfolgreiche Weltmeisterschaft in Chile – mit dem richtigen Gang drauf, der unaufgeregten Art, die dich auszeichnet und maximal Vollgas!
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— Paul Bohnert / Michael Müller / Mareike Engelbrecht / The Advocate / Instagram